28. KAPITEL

Es war fast halb sieben, als die Krisensitzung im Hauptquartier der Polizei endlich zu Ende ging. Ami hielt sich seit Stunden nur mit Hilfe von Adrenalin wach. Brendan Kirkpatrick hatte beobachtet, wie ihr die Augen zufielen und ihr mehr als einmal das Kinn auf die Brust sank.

»Sie müssen völlig erschöpft sein«, meinte er.

»Allmählich holt mich der Schlafmangel ein«, gab Ami mit einem müden Lächeln zu.

»Ich habe ein Zimmer im Heathman für Sie reservieren lassen«, sagte Brendan. Das war ein vornehmes Hotel nur wenige Häuserblocks vom Justizzentrum entfernt.

Ami wirkte beunruhigt. »Das kann ich mir nicht leisten.«

»Keine Sorge. Das County bezahlt die Rechnung, bis Sie und Ihr Sohn wieder sicher nach Hause gehen können. Ich habe eine Polizistin gebeten, Ihnen Kleidung von zu Hause mitzubringen. Sie wartet in ihrem Hotelzimmer, zusammen mit ihrer Zahnbürste, einer Bürste und anderem Zeug aus Ihrem Bad. Sie hat auch ein paar Sachen für Ihren Sohn eingepackt. Falls Sie noch etwas brauchen, schicke ich Sie mit einer Polizeieskorte nach Hause.«

»Danke, Brendan.«

»Sie sind eine wichtige Zeugin.«

»Das war sehr umsichtig von Ihnen.«

»Ich bin froh, dass Sie es zu schätzen wissen, aber trinken Sie nicht zu viel aus der Minibar.«

»Im Moment habe ich nicht einmal genug Kraft, um sie aufzumachen.«

»Dann bringe ich Sie wohl besser zum Hotel.«

»Das müssen Sie nicht.« »Weiß ich, aber ich bin fast verhungert, und wir können beide ein Frühstück gebrauchen.«

Ami hatte nicht bemerkt, wie hungrig sie war, bis Brendan das Essen erwähnte. Die Aussicht auf ein anständiges Frühstück und saubere Laken kam ihr plötzlich paradiesisch vor.

Vor dem Justizzentrum strömten bereits die ersten Pendler in die Innenstadt von Portland, aber auf den Straßen war es noch relativ leer. Vor den Parkhäusern standen keine Autoschlangen, und nur vereinzelt waren Fußgänger zu ihren Büros unterwegs. Viele hielten Becher mit dampfendem Kaffee in der Hand. Ami blieb stehen und blinzelte im Sonnenlicht. Die kühle Brise landeinwärts vom Willamette River erfrischte sie, nachdem sie die ganze Nacht im Verhörzimmer gehockt hatte.

»Ein wenig Bewegung tut jetzt gut«, meinte Brendan.

»Ich würde lieber schlafen.«

»Ich weiß, was Sie meinen. Diesen Luxus werde ich mir nicht so häufig leisten können, bis wir Rice geschnappt haben.«

Brendan war so freundlich zu ihr, dass Ami Gewissensbisse bekam, weil sie ihm verschwieg, dass Carl und Vanessa in ihrem Blockhaus untergeschlüpft waren. Mehr als einmal seit sie in das Justizzentrum gegangen waren, spielte sie mit dem Gedanken, ihm zu verraten, wo er die Flüchtigen finden konnte. Doch trotz allem, was Hobson gesagt hatte, glaubte sie, dass Carl und Vanessa ihr Leben riskiert hatten, um sie zu retten. Sie wollte die beiden nicht einfach aufgeben.

»Stimmen Sie Hobsons Einschätzung von den Vorgängen in meinem Haus zu? Dass Wingate seine Leute geschickt hat, um Vanessa zu retten, und Carl sie und die Officer umgebracht hat?«

»Das ergibt jedenfalls einen Sinn.«

»Warum hat Carl mich dann am Leben gelassen? Warum bringt er Dr. French und die Polizisten um, mich aber nicht?«

»Wer kann schon sagen, wie der Verstand von jemandem mit seiner geistigen Verfassung arbeitet? Vielleicht hat French etwas gesagt, aus dem Rice schloss, dass er mit Wingate zusammenarbeitete. Oder Rice misstraut Psychiatern, hält Sie aber für eine von den Guten.«

»Vermutlich ist diese Erklärung so plausibel wie jede andere, aber ich halte es immer noch für sehr wahrscheinlich, dass er mich gerettet hat. Falls er die Wahrheit sagt, hat General Wingate sehr starke Motive, Carl und alle die zu töten, denen Carl von dieser Einheit erzählt hat. Wie Dr. French und mich.«

»Falls diese Einheit wirklich existiert. Dafür haben wir nur Carls Wort.«

Ami war zu müde, um weiter zu debattieren, und es erleichterte sie, als endlich das Heathman auf der anderen Straßenseite auftauchte. Das Hotelrestaurant hatte gerade erst geöffnet, so dass wenige andere Frühstücksgäste im Speisesaal saßen. Eine Hostess führte Ami und Brendan zu einem Tisch am Fenster, und ein Kellner brachte ihnen Wasser. Ami bestellte eine leichte Mahlzeit und Brendan Pfannkuchen.

»Ich möchte Ryan sehen«, erklärte Ami, nachdem der Kellner mit ihrer Bestellung davongegangen war.

»Er kann bei Ihnen bleiben, bis Sie wieder ungefährdet nach Hause können. Ich wette, er findet es cool, ein paar Tage in einem Hotel zu wohnen.«

»Bestimmt. Er ist sehr neugierig.« Ami lächelte. »Manchmal treibt er mich mit seinen Fragen fast in den Wahnsinn.«

»Soweit ich weiß, war er nach dem Spiel sehr durcheinander.«

»Jetzt geht es ihm besser, aber es ist sehr hart für ihn. Er mag Carl und bekommt von den Ereignissen immer noch Alpträume. Er hat schon lange genug gebraucht, um über den Tod seines Vaters hinwegzukommen.« »Das muss sehr hart für Sie beide gewesen sein.«

»Chad war ein großartiger Vater. Und ein großartiger Ehemann.« Ami war müde, und es fiel ihr schwer, ihre Gefühle zu beherrschen.

»Ich weiß. Betty Sato hat es mir erzählt.« Kirkpatrick wollte nicht, dass sie über etwas redete, was sie offenbar noch schmerzte.

»Ryan war mein Rettungsring, Brendan. Seinetwegen habe ich weitergemacht. Wäre er nicht da gewesen ... Ich weiß nicht, was ich dann getan hätte.«

»Sie sind zäh. Sie lassen sich nichts gefallen, schon gar nicht von mir.«

Er lächelte. Ami dachte an seine eigene Lage, und dass er tapfer weitergemacht hatte, obwohl auch er jemanden verloren hatte, den er liebte.

»Wie haben Sie das bewältigt, so ganz allein?«

»Ich habe einfach einen Fuß vor den anderen gesetzt und bin weitergegangen. Ich gehe immer noch, weil ich Angst habe, stehenzubleiben, aber das muss ich Ihnen ja nicht erzählen.«

Der Kellner kam mit ihrem Essen. Sie waren beide froh über diese Unterbrechung.

»Ich checke Sie nach dem Frühstück ein«, erklärte Brendan, als sie wieder allein waren. »Dann sorge ich dafür, dass Ryan von der Schule abgeholt und hierher gebracht wird.«

»Das ist furchtbar nett von Ihnen.«

»Ich versuche mich für die Art und Weise zu entschuldigen, wie ich Sie bei unserem ersten Treffen behandelt habe. Ich habe noch immer Gewissensbisse deswegen.«

»Ja, Sie waren ein echter Mistkerl«, antwortete Ami lächelnd. »Aber ich verzeihe Ihnen.«

»Gut. Ich möchte auch nicht, dass Sie wütend auf mich sind. Jedenfalls nicht außerhalb des Gerichtssaales.«

Die Schuld wird nie vergehen
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